Was jeder lokal-stationäre Einzelhändler braucht ist eine EDV, die das komplette Sortiment digital erfasst

Ein Gastbeitrag von Professor Dr. Andreas Hesse (Professorenvertreter der Hochschule Koblenz)

Im Zeitalter der Digitalisierung sieht sich der Einzelhandel tiefgreifenden Veränderungen gegenüber: Neue übermächtige globale Wettbewerber (geopolitische Veränderungen), zunehmende Urbanisierung, mit der Folge sinkender Bevölkerungs- und Kundenzahlen in kleinen und mittleren Städten (stadtpolitische Veränderungen), zunehmende Alterung in der Kundenstruktur und Änderungen im Einkaufsverhalten (kundenseitige Veränderungen), neue, veränderte Lieferanten-Händler-Beziehungen (herstellerseitige Veränderungen) und neue Technologien (technologische Veränderungen), vor allem elektronische Handelsformen, setzen insbesondere kleinere und mittlere Handelsunternehmen, vor allem lokal-stationäre Einzelhändler, unter Druck. Im Angesicht einer nahezu grenzenlosen Angebotsbreite und -verfügbarkeit von Produkten und Dienstleistungen außerhalb der traditionellen Einkaufsstraßen, aber auch im Angesicht der zunehmenden Reife von Produkten und Verbrauchern, ist der Raum und der Mehrwert, den Expertise und Spezialisierung im lokalen Fachhandel ausprägen, zunehmend weniger nachgefragt. Nachdem Handwerke, wie etwa der Schuhmacher, der industriellen Produktion weichen mussten, sehen sich nun intermediäre Organisationen und Gewerbe, wie der lokal-stationäre Einzelhandel, bedroht durch die digitale Transformation. Und dabei ist auch klar, dass die in der letzten Dekade massiv auftretenden Phänomene im Internet erst der Anfang weiterer technologischer Entwicklungen sind.

Klar ist, dass man zum erfolgreichen Überleben im Handel das Internet und weitere digitalen Möglichkeiten nutzen muss. Unklar aber sind trotz der Tatsache, dass die Beratungsindustrie, Marktforschungsinstitute, Verbände und erste wissenschaftliche Institutionen die Bedeutung und allgemeine Handlungsempfehlungen hinsichtlich einer Digitalisierung postulieren, die Variablen, Einflussfaktoren und deren konkrete Zusammenhänge. Je nach geographischer Lage ist der Kundenzugang zu Waren ein anderer, je nach Branche und Produkt können unterschiedliche Prozesselemente zu Gunsten des Kunden digitalisiert werden, je nach Branche kann es einfache „Trittbretter“ ins Internet geben, je nach Branche und Gut ist menschlicher Kontakt und Vertrauen sehr relevant, je nachdem in welcher Phase der Entscheidung ein Konsument ist, benötigt dieser andersartige Unterstützung, je nach Größe der Stadt und Anteil der Filialisten ist es eine andere Voraussetzung Online-Kooperationsformen anzugehen, je nach Alter der Zielgruppe spielen digitale Anwendungen im täglichen Gebrauch eine andere Rolle,  – die Aufzählung ließe sich fortsetzen. In Wirklichkeit kann sich die stationäre Welt nur mithilfe digitaler Services schützen, die beide Welten verbinden: Kundennähe, authentische Ansprache sowie eine umfangreiche Auswahl und ständige Verfügbarkeit.

Es gibt kein Allheilmittel für den lokal-stationären Einzelhändler, welches dieser nur adaptieren muss, um so die Vertriebshoheit zurückzuerlangen. Dennoch sind Omnichanneling und lokale Online-Marktplätze Aktivitäten, die zumindest die Chance einräumen, die Bedürfnisse der Kunden auf verschiedenen Kanälen und in verschiedenen Kontaktpunkten in Summe stärker zu befriedigen als dass ein purer Internethändler oder ein nationaler Filialist kann. Seien es Bedürfnisse wie Zeitersparnis, Status, Selbstdarstellung, Erlebnis, Ausprobieren, Neugier, Preis-Leistungsverhältnis oder Beratungsbedarf. An manchen Stellen entlang des Prozesses der Suche, des Entscheidens oder der Kaufabwicklung können lokal-stationäre Händler Nachteile ihres (stationären) Systems unter Ausnutzung des Internets ausgleichen. Ein solches Kopieren von Elementen aus der Offlinewelt führen nahezu alle erfolgreichen Unternehmen in der Onlinewelt seit jeher durch. Omnichanneling und lokale Online-Marktplätze versprechen jedoch nur dann erfolgreich zu sein, wenn zahlreiche Faktoren in der Umsetzung berücksichtigt werden. Auf keinen Fall erfolgt eine Umsetzung solche Ansätze „wie von selbst“, „als Selbstläufer“ oder gar im Sinne eines „Einsteckens und Loslegens [Plug-and-Play]“.

„OFFLINE kann ONLINE mehr als kopieren.“

Onlineshops bieten ein Einkaufen rund um die Uhr, ohne Pplatzsuche, ohne Warteschlangen an der Kasse, ohne schwere Einkaufstüten, fast ohne Sortimentsgrenzen (in jeder Variante, Größe und Farbe) und mit sekundenschneller Preistransparenz. So wird konkreten Nachteilen des klassischen Einkaufsbummels in der Stadt systematisch begegnet, um Kunden vom Vorteil des E-Commerce zu überzeugen. Selbst klassisch stationäre Charakteristika wie Erlebnisorientierung und Wohlfühlatmosphäre sind mittlerweile auch online Thema und nicht mehr auf den stationären Handel beschränkt. Man denke an die Emotionalisierung von Botschaften durch eingebundene Videos oder an Beratung in Videochats mit echten Menschen. Aber auch stationäre Händler sind in der Lage, ihre Nachteile des stationären Geschäfts durch digitale Möglichkeiten zu kompensieren oder sogar zu übertreffen. Es fehlt im Laden an Produktverfügbarkeit in Sondergrößen oder entlang der Farbpallette, eine digitale „Regalverlängerung“ kann Abhilfe schaffen. Der Kunde klagt über Zeitverlust durch Parkplatzsuche und Warteschlange, die taggleiche lokale Auslieferung, eine Parkplatzreservierung per App oder die Vorbestellung zur Abholung in der befahrbaren Abholstation kann Abhilfe schaffen. Und selbst Kunden, die den besten Preis suchen, kann vor Ort durch Tiefpreisgarantie geholfen werden. Gemeinsam mit dem Kunden Angebote zu vergleichen, ermöglicht dem Händler auf diesem Weg zumindest eine wertige Beratung. Auch die Nutzung von einfachen Bezahlsystemen kann im Laden als „mobiler Check-out“ genutzt werden – falls Kunden dies neben der Möglichkeit anonym zu kaufen und bar zu zahlen präferieren.

„Stärken stärken.“

Viel wichtiger als die Frage der Online-Präsenz ist eine herausragende Beratung und erstklassiger Service mit menschlichem Kontakt im Geschäft. Die Stärken der Kundenbetreuung vor Ort sind und bleiben ein wichtiger Einfluss auf die Entscheidung der Verbraucher, wann sie welche Einkaufsmöglichkeiten nutzen. Die Fokussierung auf Kundenbedürfnisse, erlebbare Produkte und perfekte Einkaufsatmosphäre sind Basiskomponenten der lokal-stationären Kanalexzellenz.
Wenn lokal-stationäre Händler einen solchen Service vor Ort bieten, bleibt (nur noch) ein Teil an Abwicklungs- und Wiederholungskäufen bedroht durch Onlinekonkurrenten. Aber auch dieser Konkurrenz kann durch einen eigenen (prozessoptimierten) Onlineshop und lokale Auslieferung für entsprechende Kaufabwicklungen begegnet werden.

“Datennutzung ist ein Muss.”

Lässt sich daraus ableiten, dass jeder lokal-stationäre Einzelhändler einen Onlineshop benötigt? Nein, vielfach stehen hier Aufwände nicht im Verhältnis zu kommerziellen Potenzialen, auch aufgrund der Marktkonzentration im Online-Handel nicht. Was jeder lokal-stationäre Einzelhändler braucht ist eine EDV, die das komplette Sortiment digital erfasst. Ob Produkt oder Dienstleistung, eine Beschreibung, ein Foto, der Status – eine möglichst lückenlose Digitalisierung sollte so schnell wie möglich und wirtschaftlich sinnvoll von jedem Einzelhändler erreicht werden. Erst darauf aufbauend lassen sich Händlerplattformen, Branchenplattformen, Omnichannel-Services und soziale Netzwerke kommerziell erfolgversprechend nutzen.
“Digital-lokaler Einzelhandel.”

Die Entscheidung für die Nutzung digitaler Möglichkeiten ist alternativlos und überlebensnotwendig. Diejenigen lokal-stationären Einzelhändler werden überleben, die zu digital-lokalen Einzelhändlern werden. Das heißt diejenigen, die dem Kunden erlebbare und relevante Mehrwerte durch digitale Anwendungen bieten und mit den traditionellen Stärken im Vor-Ort-Geschäft integrieren. Digitale und physische Charakteristika komplementieren sich dabei, ohne sich zu konkurrieren.
Es geht darum, dass lokale stationäre Einzelhändler überprüfen und entscheiden, Geschäftsmodelle weiterzuentwickeln, um den digitalen Kunden von heute und morgen an jedem Kontaktpunkt seiner Wahl abzuholen, das heißt effektiv anzusprechen und zu begeistern. Einzelhändler sollten sich von der Frage verabschieden, ob sie im Laden oder im Internet präsent sind, vielmehr müssen sie verstehen, wie sie heute Kunden begeistern können, die selbst entscheiden, welche Produkte sie zu welchem Zeitpunkt in welchem Kanal kennenlernen, kaufen oder zurückgeben wollen. Und dies ohne E-Commerce zu kopieren, sondern auf smartem integrativem Weg, im Sinne einer hybriden Handelsstrategie.

 

 

Über den Autor

Professor Dr. Andreas Hesse arbeitet als Professorenvertreter im Fachbereich Wirtschaftswissenschaften der Hochschule Koblenz. Sein Forschungsschwerpunkt sind die Auswirkungen der Digitalisierung auf Organisationen und Systeme. Seine Untersuchungen zu Digitalisierung und lokalem Einzelhandel fanden in 2018 breite Resonanz in Wirtschaftsmedien wie dem Harvard Business Manager, der Lebensmittelzeitung, Technology Review und der Wirtschaftswoche Online. Der hiesige Text stellt eine Zusammenfassung eines aktuellen umfassenden Beitrags des Autors zu den Wissenschaftlichen Schriften des Fachbereichs Wirtschaftswissenschaften der Hochschule Koblenz dar, der auf Wunsch beim Autor kostenlos angefordert werden kann (ahesse@hs-koblenz.de). Neben seiner Lehr- und Forschungstätigkeit ist er beratend für Unternehmen und Institutionen tätig, vor allem hinsichtlich der Umsetzung von Digitalisierungsoptionen.
Dr. Andreas Hesse promovierte an der EBS Universität für Wirtschaft und Recht, Oestrich-Winkel und ist Diplom-Kaufmann der Universität Trier. Er verfügt über 17 Jahre Berufserfahrung in der freien Wirtschaft, davon 12 Jahre in führenden Managementpositionen in Vertrieb und Marketing.